Wolfsbach, Winterbach und Wiesach
Die älteste Urkunde des Burgenlandes und ein etwas ungewöhnlicher Versuch, das Rätsel um die „Regensburger Schenkung" von 808 zu lösen
Am 14. September 808 wird in einer Traditionsnotiz des Klosters St. Emmeram in Regensburg folgendes festgehalten:
„Die Geschwister Wirut, Giselmar und Wentilmar schenken dem Kloster zu ihrem und ihres Vaters Elis Seelenheil ihren Besitz im Ort Wolfsbach, der von der Wiesach zum Winterbach und zu zwei Grabhügeln und dann bis zu den oben genannten Awarenorten reicht."
Als Zeugen werden genannt: Fatto, Hamadeo, Sahmar, Hitto, Uualtheri, Geruuin und Meginhart. Die Schenkung wird am nächsten Tag bestätigt. Dabei sind die Grafen Aodulf und Cotaramm sowie eine weitere, lange Reihe von Zeugen zugegen. Die Geschwister bekräftigen ihre Schenkung nochmals vor Bischof Adalwin in der Kirche des Hl. Emmeram. Sie waren also persönlich in Regensburg anwesend. Außerdem übergaben sie auch ihren Diener Gereloh an die Kirche.
Diese Schenkungsurkunde, die nicht im Original, allerdings in einer noch im 9. Jahrhundert angefertigten, wahrscheinlich unvollständigen Abschrift erhalten ist, ist die älteste Urkunde aus dem Gebiet des heutigen Burgenland. Sie wird im Hauptstaatsarchiv in München aufbewahrt (Codex Sancti Emmerami 5 I/2, fol. 13).
Die „Regensburger Traditionsnotiz" ist in mehrfacher Hinsicht überaus interessant. Zunächst erhebt sich die seit Jahrzehnten heftig diskutierte Frage, wo Wolfsbach lag. Viel Gelehrtenfleiß wurde bereits in dieses Problem investiert. Noch ist das Rätsel nicht ganz gelöst. Zwar stimmen die meisten Forscher heute überein, dass mit Wolfsbach nur ein Ort im Bereich von Mattersburg an der Wulka (dieser Gewässername bedeutet ja ebenfalls Wolfsbach) gemeint sein kann. Mit der Grenz-beschreibung aber gibt es Probleme. Wiesach, Winterbach, die Grabhügel und die Awarenorte wollen einfach nicht zusammen passen, sind nicht in eine „Reihe" zu bringen, nicht mit und nicht gegen den Uhrzeigersinn. Die zweite Frage ist: Wer waren die drei Geschwister, die schon 808, also nur wenige Jahre nach der Eroberung Pannoniens durch die Heere Karls des Großen und noch bevor das neue Gebiet voll befriedet war, ihren anscheinend recht großen Besitz an die Regensburger Kirche übertragen? Vor allem die Personennamen sind interessent und Gegenstand vieler Spekulationen:
Giselmar und Wentilmar sind, ebenso wie Gerloh, eindeutig germanische Namen. Aber Elis und Wirut? Sind es slawische oder awarische Namen? Die Slawisten können keine eindeutige Antwort geben und von den Awaren sind viel zu wenig Eigennamen überliefert, um vergleichen zu können.
Aber sehen wir uns, bevor wir eine Antwort auf diese Fragen versuchen, zunächst die Geschichte der Erforschung der Wolfsbach - Urkunde an. Denn diese gibt und Aufschluss über Wege und Umwege der Interpretation.
Zunächst, im 19. Jahrhundert, wurde Wolfsbach in Ober- und in Niederösterreich gesucht. 1952 glaubte Mitscha - Märheim, der berühmte Erforscher der Völkerwanderungszeit in Österreich, dessen Buch „Dunkle Jahrhunderte, goldene Spuren" tausende Menschen für diese Zeit begeisterte, Wolfsbach in Wolfsthal bei Hainburg gefunden zu haben.
Im folgenden Jahr trat Fritz Zimmermann auf den Plan - Eine schillernde Persönlichkeit, die in zahlreichen Artikeln die frühe bayerisch-fränkische Besiedlung unseres Raumes beweisen wollte, nicht zuletzt um den ungarischen Historikern, die damals und auch heute noch davon ausgehen, dass Pannonien zur Zeit der magyarischen „Landnahme" weitgehend menschenleer war,entgegenzutreten. Er ist dabei bei seinen namenskundlichen Ableitungen als Nichtfachmann oft weit übers Ziel geschossen. Hinsichtlich der Wolfsbach - Urkunde hat er sich aber großes Verdienst erworben. In der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Burgenländisches Leben veröffentlichte Zimmermann einen Aufsatz in dem er erstmals Wolfsbach als einen Ort an der Wulka lokalisierte. Er konnte sich dabei auf den berühmten ungarischen Ortsnamenforscher Elemer Moór berufen, der Wulka von slawisch Vlkawa = Wolfsbach ableitete. Die Wiesach vermutete Zimmermann im Hirmerbach und im Edlas und die Tumuli, also die Grabhügel, im Bereich Bad Sauerbrunn. Mitscha - Märheim schloss sich bald dieser Ansicht an und fand zusätzliche Argumente. Er setzte den Winterbach mit dem Gaisbach gleich, an dessen Oberlauf es den Flurnamen Wintersumpf gab. Die Tumuli glaubte er auf den Leberäckern zwischen Marz und Rohrbach gefunden zu haben. Die dortigen Hügelgräber waren ja schon seit den Grabungen der Gelehrten rund um Eduard Sueß bekannt.
Der niederösterreichische Historiker Karl Lechner widersprach dieser Ansicht.
Lechner argumentierte dabei auf zwei Ebenen: Erstens zog er die Gleichsetzung Wolfsbach - Wulka in Zweifel und stützte sich dabei auf Karl Steinhauser. Dieser, ein ebenfalls renomierter Ortsnamenforscher, deutete Wulka von slawisch Vlgka, „die Feuchte". Zweitens meinte er, dass in dieser frühen Zeit, bald nach der militärischen Niederwerfung der Awaren, noch keine Schenkungen an bayerische Stifte und Klöster stattgefunden hätten. Diese Schenkungen hätten erst in der Mitte des 9. Jahrhunderts, nach dem endgültigen „Verschwinden" der Awaren, eingesetzt.
Fritz Zimmermann und Rudolf Hrandek antworteten 1954 in den Burgenländischen Heimatblättern.5) Sie legten neue Beweise für ihre Theorie vor. Sie wiesen darauf hin, dass in der Mattersburger Grenzbe-schreibung von 1202 der Flurname Forcosfertes (=Wolfsmoor") vorkommt.
Schließlich griff auch der renomierte burgenländische Kirchenhistoriker Josef Rittsteuer in die Auseinandersetzung ein und brachte neue, überzeugende Indizien für die Lokalisierung von Wolfsbach im Mattersburger Raum ein.6) Regensburg hatte auch später noch Besitzungen in diesem Gebiet. So tauschte im Jahre 1014 Bischof Megingaut von Eichstätt das Jagdgebiet „Stederach vocata prope Ungariam" von Bischof Gebhard I. von Regensburg ein. Er gab dafür einen „weit wertvolleren" Königshof in Nördlingen im Ries. Rittsteuer führt an, dass Megingaud zwar keine besondere Kirchenleuchte war, dafür aber ein passionierter Jäger. Das Jagdgebiet „nahe bei den Ungarn gelegen" wäre auch noch aus einem anderen Grund für Megingaud durchaus von Interesse gewesen: Er war ein Verwandter des Herzogs Heinrich von Bayern, später Kaiser Heinrich II. Heinrichs Schwester war Gisela, die die Gemahlin König Stephans des Heiligen von Ungarn wurde. Gisela brachte zahlreiche Gefolgsleute aus ihrer Heimat mit, die im westlichen Ungarn Güter erhielten. Diese Gebiete hätte Stephan von Kaiser Heinrich II. als Geschenk erhalten. Stedrach wird als Ztradach auch in der berühmten „Conversio Bagoari-orum et Carantanorum" (um 872) erwähnt. Diese schildert die Verdienste Salzburgs um die Christianisierung des Alpenraumes, Carantaniens und Pannoniens. Die „Conversio" berichtet. dass im Jahre 866 Erzbischof Adalwin eine Kirche zu Ehren des Heiligen Stephan in Ztradach geweiht habe. Die Gleichsetzung mit dem heutigen Ort Stöttera ist inzwischen unumstritten.
Möglich wäre auch - wie Rittsteuer vermutet - dass Eichstätt schon früher Besitz an der Wulka hatte und dass es schon im 8. Jahrhundert eine Awarenmission gab. Die Beziehungen der Baiern zu den Awaren waren ja zeitweise recht gut. Die Pfarre von Marz könnte schon damals gegründet worden sein. Das würde erklären, warum mit Elis und seiner Familie hier schon 808 Christen lebten.
Im Lichte der jüngeren Forschung, vor allem der Archäologie7), müssen wir wohl überhaupt unsere Vorstellungen von einem nahezu menschenleeren Gebiet an der Wulka und in der Ödenburger Pforte aufgeben.Von dieser Vorstellung gingen sowohl Zimmermann wie Rittsteuer noch aus. Heute wissen wir, dass im Awarenreich neben den großen awarischen Dörfern (etwa von Zillingtal) große Gruppen der Vorbevölkerung - christliche Romanen etwa am Plattensee und wohl auch in der Umgebung von Scarabantia - Ödenburg ( ein deutlicher Hinweis sind die Warisch bzw.Wälsch-Äcker in Agendorf), germanische Gepiden und Langobarden sowie andere Stammessplitter, ferner slawische Zuwanderer in größerer Zahl ansässig blieben. Auf slawische Rodung bzw. Koloniasation deuten etwa Flurnamen im Bereich des oberen Tauscherbaches und Aubaches hin).
Allein in der näheren Umgebung Ödenburgs wurden in jüngster Zeit vier Siedlungen aus vormagyarischer Zeit, alsoaus dem 8. Jahrhundert, ausgegraben. Dazu kommen Belege für die Anwesenheit von fränkischen Kriegergruppen (etwa von Ödenburg-Steinabrückel) und mit dem berühmten Cundpald - Kelch auch ein Beweis für die christliche Mission aus dem Westen. Die Bevölkerungsdichte im Bereich der Wulka und der Ödenburger Pforte muss also auch im Awarenreich und im karolingischen Ostland relativ hoch gewesen sein. Und diese Bevölkerung blieb, auch nach dem „Ungarnsturm", wohl größtenteils erhalten.
Der archäologische Befund ist eindeutig: Die Siedlungen rund um Ödenburg zeigen keine Brandspuren, keine Verwüstungen, keine Zerstörungen. Im Fundgut, in der materiellen Kultur, etwa im Tongeschirr, ist nicht der geringste Bruch erkennbar.3 Damit ist eindeutug bewiesen, was man schon länger vermutet: Die Menschen sind geblieben, lediglich die Herrn haben gewechselt. In Ödenburg (in der befestigten Innenstadt) entstand eine magyarische Garnison, die die Pforte und wohl auch die einheimische Bevölkerung zu überwachen hatte. Das magyarische Siedlungsgebiet begann erheblich weiter im Osten, bei Kapuvar.
Im Lichte dieser neueren Forschung ist also die Frage nach den Christen, nach Elis und seiner Familie, leicht zu lösen: Sie waren „germanische Awaren". 8) Und sie waren Christen, wie es sie auch an vielen anderen Orten im Awarenreich gab. Ihr Christentum konnte „alt" sein, also noch aus der Völkerwanderungszeit tradiert sein, es konnte aber auch eine Folge einer frühen bayerischen Mission sein. Jedenfalls ist leicht einzusehen, dass ein christlicher Sippenverband zumindest teilweise germanischer Herkunft, der vielleicht schon im Awarenreich eine wichtige Rolle gespielt hatte, leicht Anschluss an die neuen bairisch - fränkischen Herrn fand.
Damit sind wir wieder bei Wirut, Gisilmar und Wentilmar und bei der Regensburger Urkunde von 808. Wo lag nun das Gebiet von Wolfsbach? Auch Rittsteuer sucht die Wiesach im Breich von Wiesen, die Grabhügel auf den Leberäckern zwischen Marz und Rohrbach und die Awarenorte im Wulkatal, wobei die Awarensiedlung von Zillingtal mit Sicherheit dazu gehört. Dies ergibt eine durchaus sinnvolle Reihung gegen den Uhrzeigersinn. Aber es ergibt keine geschlossene Abgrenzung eines Gebietes. Es fehlen zwei wichtige Grenzmarken: eine gegen die Wr. Neustädter Pforte und eine gegen die Ödenburger Pforte.
Ich will hier eine anderen, unüblichen Weg gehen. Löst man sich zunächst von der Urkunde und geht man mit den Augen des Geographen und genauer Geländekenntnis an das Problem, zeigen sich neue Möglichkeiten. Wenn man am Marzer Kogel steht und das ganze obere Wulkabecken um Mattersburg überblickt, wird sofort klar, wo solche Begrenzungspunkte oder Linien zu setzen sind: vom Gelände vorgegeben sind die Begrenzungen im Westen und Süden durch die Rosalien- und die Ödenburger Berge. Ebenso von der Natur vorgegeben sind die höher gelegenen und bewaldeten Rücken zum Wiener Becken sowie der Marzer Kogel.
Müsste ich das obere Wulkabecken mit den Nebenbächen der Wulka abgrenzen, würde ich zumindest drei Markierungen setzen: eine in der Wiener Neustädter Pforte zwischen Sauerbrunn und Neudörfel an der alten Römerstraße. Grabhügel wären hier, am sonst wenig auffälligen Höhenrücken, ideal; römische Grabhügel liegen tatsächlich nahe am Ortsausgang von Sauerbrunn9); den zweiten Punkt müsste die Grenze zum unteren Wulkabecken markieren - der Föllik wäre gut geeignet oder auch der Höhenrücken zwischen Pöttsching und Zillingtal, der die Ebenheit zwischen Draßburg und Zemendorf, also die Ausläufer des Marzer Kogels, jenseits der Wulka markant fortsetzt.
Genau hier liegen auch die archäologisch erschlossenen Awarendörfer; den dritten Punkt aber müsste ich zur Ödenburger Pforte hin setzen. Jeder, der öfter zu Fuß oder mit dem Fahrrad im Bereich des Marzer Kogels unterwegs ist, kennt einen solchen markanten Punkt. Er liegt mitten in der Niederung zwischen Marzer Kogel und den Ausläufern des Ödenburger Berglandes im Bereich der Rohrbacher Höhe. Wie eine Wegmarke liegt dieser Hügel da, direkt an der alten Römerstraße. Er wird von den beiden Quellbächen des Ödenmühlbaches umfasst. Etwas östlich liegt die Wasserscheide zwischen dem Wulkasystem und dem Einzugsbereich des Spittelbaches (Ikva) mit seinem Nebenflüssen, also die Entwässerung zur Raab und Donau.Jahrhunderte lang verlief dort die Grenze zwischen den Herrschaften, die Grenze zwischen dem Mattersburg - Forchtensteiner Raum und der Ödenburger Pforte, bis heute ist dort auch die Hottergrenze.
Der markante Berg heißt Wieserberg. Zumindest nach der Österreichischen Karte 1:50000 - nicht „Wiesenberg", obwohl seine Hänge als Wiesen genutzt werden. Gesprochen wird: „Wisaberi", mit offenem und betontem a. Es ist klar, da steckt eine „Wisa (ach)" dahinter, ein Bach mit diesem Namen. „Ödenmühlbach" kann kein sehr alter Gewässername sein, und er wird auch kaum verwendet. Der Ödenmühlbach ist also die „Wiesach" der Urkunde von 808. Diese Interpretation würde eine sinnvolle Abgrenzung des Schenkungsgebietes im Uhrzeigersinn ergeben: von der Wiesach im Südosten zum Winterbach im Südwesten, zu den Grabhügeln im Nordwesten und den Awarendörfern im Nordosten. Noch zwei weitere Indizen sprechen dafür: mittelalterliche Grenzbeschreibungen beginnen zumeist im Osten und verlaufen im Uhrzeigersinn. Und zweitens, auch die Urkunde von 1202 folgt genau diesem Schema.
Viele Fragen sind in der Erforschung der uralten Kulturlandschaft der Ödenburger Pforte und im Bereich des Kogelberges noch offen: das Schicksal von Klettendorf, die Lage der Propstei Marz - Rohrbach, die Geschichte des Teiches, der ja offenkundig künstlich angelegt wurde. Da ist noch viel zu tun für engagierte Heimatforscher ...