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Die europäischen Chronisten des Mittelalters sahen in den Magyaren Abkömmlinge der Skythen und der Hunnen - eine Tradition, die die Magyaren selbst übernommen haben. Die älteste ungarische Chronik,die um 1200 entstand, läßt Almos, den Vater Arpáds, von Attila abstammen, und etwa hundert Jahre später entwickelte der Chronist Simon Kézai seine Ansicht von der Abstammung der Magyaren.

Im Jahre 862 berichtet Hinkmar von Reims, "bisher jenen (ostfränkischen) Völkern unbekannte Feinde, Ungarn genannt" hätten das Reich Ludwigs d. Dt.verheert. Ein Jahr später heißt es in den alamannischen Annalen, "ein Volk der Hunnen habe die Christenheit angegriffen". All die alten Ängste, die die Magyaren im christlichen Europa hervorriefen, so wie früher Hunnen und Awaren, faßt H.Wolfram so zusammen:

"Blutrünstige, schreckliche Skythen waren die Ungarn, die rohes Fleisch fraßen, Blut tranken und 'die in Stücke zerteilten Herzen ihrer Gefangenen' als Medizin einnahmen. Sie brachten alle Männer und alten Frauen um, trieben aber die jungen Frauen wie das Vieh zusammen und schleppten sie mit sich fort. Sie waren hervorragende Pfeilschützen und handhabten mit großer Kunst ihre Hornbogen: Kahl geschoren, saßen sie zu allen Zeiten auf ihren Pferden; ihre Weiber waren ebenso wild wie sie selbst. Wer zu ihnen gehören wollte, mußte ihre Haartracht annehmen, was sich offenkundig auch einige Mährer einreden ließen. Die Ungarn heulten wie die Wölfe und verwendeten Wolf oder Hund als Totem, über dem sie Eide schworen. Sie waren die wiederauferstandenen Awaren oder Hunnen. Wenn sie aber Hunnen waren, dann wußte man über ihre Herkunft Bescheid. Widukind von Corvey las im Jordanes, daß die Mütter der Hunnen gotische Hexen, ihre Väter aber Geister der Steppe seien."

Woher die Magyaren wirklich kamen ist natürlich nicht einfach zu beantworten. So wie für alle anderen Völker gibt es auch im Hinblick auf die "Abstammung" der Magyaren keine kurze und schon gar keine "eindeutige" Antwort. Sie haben ebenso wie alle anderen Völker des Frühmittelalters einen komplizierten Stammesbildungsprozeß durchgemacht, in dem es immer wieder zu Abspaltungen bzw. zur Aufnahme fremder Gruppen kam.

Auch die Frage nach der Urheimat hat dutzende verschiedener Antworten gefunden. Sie wurde im Wolgagebiet, im Kaukasusvorland, im Ural lokalisiert. Selbst heute, wo zu den vagen "Beweisen" der Sprachwissenschaft immer mehr archäologische Funde kommen, ist die Zuordnung zu einer bestimmten Volksgruppe natürlich schwierig.

Die heutige ungarische Geschichtsforschung zeichnet etwa folgendes Bild: Um 4000 v. Chr. siedelten die Vorfahren der finno-ugrischen Völker im Bereich des Ob und des Ural, im dritten Jahrtausend als Jäger und Sammler beiderseits des Ural. Um 2000 v. Chr. bringt man die finno-ugrischen Völker mit der Wolosowo-Kultur am Oberlauf der Wolga in Verbindung. Um 2000 hätte sich die Sprachgruppe in ihre beiden Hauptzweige gespalten, die finnischen Völker wären nach Nordwesten abgewandert. Die Gruppe der Ugrier lebte östlich des Ural, in der Wald - und Grassteppe. Zwischen 2000 und 500 v. Chr. fanden dort, in der Andronowo- Kultur, entscheidende Veränderungen statt. Unter dem Einfluß indogermanisch - iranischer Völker, die die Hauptträger der Andronowokultur waren, gingen auch die Ugrier zu einer seßhaften Lebensweise mit Ackerbau und Viehwirtschaft über. Pferde, Rinder, Schafe, Mahlsteine und Sicheln sind archäologisch nachgewiesen. Das Pferd wurde, wie Zaumzeugteile aus Knochen beweisen, als Reittier benutzt und spielte offenbar auch in der Mythologie eine wichtige Rolle. Ab der Mitte des 2.Jahrtausends begann auch die Erzeugung von Metallwerkzeugen, eine Fertigkeit, die offenbar ebenfalls von den südlichen Nachbarn vermittelt wurde. Tatsache ist jedenfalls, daß die Andronowkultur zu den bemerkenswertesten Kulturkreisen der Bronzezeit gehört.

Zwischen 1000 und 500 v. Chr. erfolgte der Zerfall der ugrischen Einheit. Man nimmt an, daß dafür klimatische Gründe maßgebend waren: Ein wärmeres und trockeneres Klima führte zur Austrocknung der Waldsteppe, sie wurde zur Steppe und Halbwüste. Ein Teil der Ugrier wich nach Norden aus - jene Völker, die heute noch am Ob leben. Ein anderer Teil hat sich der Trockenheit angepaßt, gab den Ackerbau auf und wurde zu nomadischen Viehzüchtern, die vor allem von der Pferde- und Schafhaltung lebten. Dieser Prozess war vermutlich für die eigentliche Herausbildung eines magyarischen Volkes maßgebend. Die Weidegebiete lagen östlich des Südurals,am Oberlauf des Tobol.

Später,in den ersten Jahrhunderten n.Chr., sind die Magyaren westlich des Ural, im 8. Jahrhundert noch weiter westlich, am Don, zu finden, eine Landschaft, die man in der ungarischen Geschichtsschreibung Levedien (Lebedia) nennt. Dort soll angeblich 1236 der Mönch Julian die zurückgebliebenen Reste der Magyaren gefunden haben.

Jedenfalls ist die Entwicklung in diesen letzten Jahrhunderten vor der Landnahme besonders wichtig, da sie zeigt, auf welchem kulturellen Niveau die Magyaren vor der Einwanderung in das Karpatenbecken waren. Diese Saltowokultur am Don scheint durch sehr komplizierte Verschmelzungsprozesse zwischen Sesshaften und Nomaden geprägt gewesen zu sein. Ihre Hauptträger waren vermutlich Alanen, also Iranier aus dem Kaukasusgebiet, die von den Arabern in der ersten Hälfte des 8.Jahrhunderts an den Don verdrängt wurden. Sie waren Bauern und Gärtner, der Weinbau war ihnen ebenfalls bekannt. Unter ihrem Einfluss wurden bulgarisch - türkische Völkerschaften, die bisher nomadisch gelebt hatten, sesshaft - ein Prozess, der an den archäologischen Grabungsbefunden deutlich abzulesen ist. Die Alanen nahmen dabei die türkische Sprache an. Am Rande dieses Prozesses dürften auch die Magyaren einbezogen worden sein. Sie übernahmen jedenfalls viele Begriffe, etwa die für Schwein und Geflügel, für Ackergeräte und für den Weinbau aus der türkischen Sprache. Noch nicht eindeutig geklärt ist die Frage, wie weit die Magyaren Träger der Saltowokultur waren. Jedenfalls waren die Magyaren schon vor der Landnahme zumindest teilweise zur sesshaften Lebens- und Wirtschaftsweise übergegangen, auch wenn die Viehhaltung nach wie vor eine überragende Rolle spielte.

Politisch gehörte der Donbereich zum Khaganat der Chasaren. Von ihnen haben die Magyaren teilweise ihre politischen Institutionen übernommen, so die dualistische Form des Fürstentums: Noch in der Landnahmezeit gab es zwei Herrscher, den "kende" als regierenden Fürsten und den " gyula" als Oberbefehlshaber. Um 820 brach im Chasarenreich ein Bürgerkrieg aus, den der Khagan für sich entschied. Die aufständischen Chasarenstämme der Kabaren fanden angeblich bei den Magyaren, die ebenfalls Untertanen des Khagans waren, Zuflucht. Dies hatte angeblich die Abwanderung der Magyaren nach Westen zur Folge. Sie ließen sich an Dnjepr, Dnjestr und Bug, in der Landschaft Etelköz (Gebiet zwischen den Flüssen) nieder.

In Etelköz kam es zu intensiveren Kontakten der Magyaren mit den Ostslawen. Der mohammedanische Geograph Ibn Rusta berichtet, dass die Magyaren in Kertsch slawische Sklaven an byzantinische Händler verkauften. Die Archäologie zeigt, dass über lange Zeit auch friedliche Handelsbeziehungen mit der slawischen Bevölkerung und der warägischen Oberschicht bestanden.

Im 9.Jh. tauchen die Magyaren dann an der unteren Donau auf, 862 erstmals im ostfränkischen Reich. Die Tendenz, immer weiter nach Westen auszuweichen, wurde durch die nachdrängenden Petschenegen bewirkt. Dieser Druck war es schließlich auch, der zumindest zum Teil für die Übersiedlung der Magyaren in das Karpatenbecken maßgebend war.


 

 

 

 

Grafik / Karte

magyaren herkunft 
Die Westwanderung der Magyaren.

 

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Quellen

  • H. Wolfram, Die Geburt Mitteleuropas,S.375