In den 1970er Jahren machte das Burgenland wohl den tiefreichendsten Strukturwandel seiner Geschichte durch. Innerhalb von zehn Jahren halbierte sich die bäuerliche Bevölkerung (von 90 304 im Jahre 1961 auf 49.589 im Jahre 1971). Die Zahl der in Industrie und Gewerbe Beschäftigten stieg von 32.305 auf 45.291, auch das Baugewerbe legte nochmals um fast 5000 Beschäftigte zu. Erstmals begann auch der Dienstleistungssektor kräftig zu wachsen. Insgesamt holte das Burgenland im Zeitraum von 1960 bis 1970 gegenüber den anderen Bundesländern leicht auf, das Brottoregionalprodukt stieg mit 5,6 % etwas stärker als der gesamtösterreichische Durchschnitt (5 %). Der Abstand blieb aber nach wie vor groß. Auch die Agrarquote war nach wie vor die höchste, die Industriequote die niedrigste.
In den sechziger Jahren gelangte das Burgenland immer mehr in das Kräftefeld der gesamtösterreichischen Konjunktur. Auch im ostösterreichsichen Zentralraum Wien-Wiener Becken herrschte eine rege Nachfrage nach Arbeitskräften, ja die letzten Arbeitskraftreserven mussten ausgeschöpft werden. Die Löhne stiegen. Der Arbeitskraftmangel machte auch das Burgenland als Industriestandort attraktiv und begünstigte den Strukturwandel. So konnte das große regionale Wohlstandsgefälle zwar nicht beseitigt, aber doch etwas abgebaut werden. Im Jahre 1964 etwa betrug der Nettoproduktionswert je Beschäftigten im gesamtösterreichischen Durchschnitt 87 800 Schilling, im Burgenland lag er bei 62700 Schilling. Dieser Wert zeigt auch, dass die Industrialisierung nicht die Hoffnungen auf ein endgültiges Aufholen erfüllte. Es begann Kritik an der bisherigen Industrialisierungspolitik, die im wesentlichen eine "Betriebsansiedlungspolitik" war, einzusetzen. Es wurde nunmehr verlangt, die bodenständigen Betriebe besser auszubauen und zu modernisieren, die Klein- und Mittelbetriebe des Landes zu fördern:
"Sie bieten nämlich eine bessere Gewähr dafür, dass neu geschaffene Arbeitsplätze auch bei einem Rückgang der Konjunktur erhalten bleiben. Bei Filialneugründungen auswärtiger Unternehmungen besteht unter Umständen die Gefahr, dass bei schlechter Auftragslage die Filialen einfach geschlossen werden".
"Die Anzahl der Klein- und Mittelbetriebe beläuft sich im Burgenland auf etwa 10 000 und würde die Ausweitung dieser Betriebe um zusätzlich ein bis zwei Dienstnehmer nicht nur eine Vermehrung von krisenfesten Arbeitsplätzen bedeuten, sondern gleichzeitig mindestens ebenso effektvoll dem Pendlerstrom entgegenwirken als die für burgenländische Verhältnisse eher strukturfremde Gründung von großen Betrieben". (Tätigkeitsbericht der Kammer der gewerblichen Wirtschaft, 1964 und 1967)
Insgesamt wurden in den 1960er und 1970er Jahren durch massive Förderung die industrielle und gewerbliche Basis doch erheblich verbreitert. Die Zahl der unselbständig Erwerbstätigen stieg etwa im Zeitraum 1961 bis 1971 um 40% (gesamtösterr.Durchschnitt 9%), dh. der sozialökonomische Strukturwandel beschleunigte sich weiterhin. In einigen Bereichen gelang es, den Abstand zum übrigen Österreich sogar zu verringern. So stieg etwa der Gewerbesteuermeßbetrag stärker als im österreichischen Durchschnitt.
Die Bereitschaft zum Pendeln blieb aber weiterhin hoch, Ende der 60er Jahre stieg - trotz der "Industrialisierung" des Landes - die Zahl der Pendler weiter kräftig an und betrug schon 40 000 Personen, wovon aber 15 000 bereits innerhalb des Landes pendelten. Ebenfalls etwa 15 000 Burgenländer arbeiteten in Wien. Zwar überwogen mit über 17 000 Personen noch immer die Bauberufe, die Beschäftigten im übrigen Gewerbe und in der Industrie nahmen aber rasch zu . In den Zentralräumen wurden weit höhere Löhne bezahlt, und diese Zentralräume rückten durch bessere Straßenverhältnisse sowie durch die Fahrt mit dem eigenen PKW und mit Werkbussen zeitlich näher. Die meisten Wochenpendler wurden zu Tagespendlern. Das Pendeln brachte eine beträchtliche Steigerung der Kaufkraft, des Lebensstandards, der sich vor allem im steigenden Wohnstandard äußerte. Die vielen in den Bauberufen beschäftigten Menschen schufen an den Wochenenden und im Urlaub zu Hause die vielen neuen Einfamilienhäuser. Dadurch, dass das Pendlereinkommen überwiegend in den Wohngemeinden ausgegeben wurde, wurden auch Impulse für das lokale Gewerbe, für Handel und Dienstleistungen ausgelöst. Die bessere wirtschaftliche Entwicklung schlug sich schließlich auch in den Ergebnissen der Volkszählung von 1971 nieder: die Einwohnerzahl stieg wieder leicht an. Allerdings machte sich das Nord-Süd-Gefälle immer deutlicher bemerkbar.Die Pendlerproblematik, vor allem die damals als besonders schwerwiegend empfundene hohe Anzahl an jugendlichen Pendlern nach Wien, blieb aber ungelöst.
Auch im Fremdenverkehr ging es aufwärts. Von 1960 bis 1970 stieg die Zahl der Übernachtungen von etwa 360 000 auf über eine Million. Die zunehmende Motorisierung begann sich auszuwirken. Die infrastrukturelle Erschließung im Verkehr, in der Energieverorgung, in der Wasserversorgung und in der Abwasserbeseitigung, bei Telefonen und Fernsehen machte Fortschritte. Das Straßennetz wurde besser ausgebaut. In Planung war der Ausbau der Schnellstraßen (B16), zwischen Mattersburg und Wr. Neustadt, die Südostautobahn über die erhoffte Burgenlandtrasse, die Ostautobahn in Richtung Budapest und eine Seestraße zwischen Mörbisch und Illmitz. Autobahn und Seestraße wurden nicht verwirklicht. Die Motorisierung erfasste das Burgenland. 1962 gab es 12 479 PKW, 1971 schon 36 093. Die Zahl der LKW stieg von 2922 auf 5006, die der T4raktoren von 10 828 auf 19 535. Die Stromversorgung verbesserte sich mit der Gründung der BEWAG und dem Ausbau der 110 -kV- Landessammelschiene.
Der gestiegene Lebensstndard, die Lebens- und Wohnqualität zeigt sich am besten in der Ausstattung mit Haushaltsgeräten. 1959 gab es 4508 E-Herde, 1970 277 113. Die Zahl der Kühlschränke stieg von 2312 auf 40 454, der Waschmaschinen von 3404 auf 31 000. 1961 waren 27,5 % der Gebäüude, 1971 schon 71,6 % an das Wasserleitungsnetz angeschlossen. Auch der verfügbare Wohnraum stieg Denk der regen Bautätigkeit kontinuierlich an.
Land im Umbruch, Land im Aufbruch
"...rascher, einschneidender und radikaler als früher haben sich in diesen zehn Jahren soziale und wirtschaftliche Strukturen verändert, die vor gar nicht allzu langer Zeit als für alle Zeiten betoniert galten und Jahrzehnte hindurch die Politik dieses Landes und für dieses Land bestimmten.
Man darf den Weg, den das Burgenland in diesem Jahrzehnt gegangen ist, aber auch mit vollem recht einen Aufbruch nennen, denn die ... Zahlen zeigen mit eindringlicher Deutlichkeit auf, dass die Alternativen die die Sozialisten diesem Land mit ihren Burgenlandprogrammen geboten haben, richtig waren, der großen Entwicklung Rechnung trugen, neue Entwicklungen auslösten und so verhängnisvolle Stagnationen zum Nachteil des Landes überwinden halfen ..." BF 7.2.73, S.16/17
Folgen der Industrialisierung
"Durch die Ansiedlung neuer Industrieunternehmen konnten also die zum Großteil in der Landwirtschaft freiwerdenden Arbeitskräfte in die gewerbliche Wirtschaft einbezogen und darüber hinaus stille Arbeitsmarktreserven (vor allem Frauen) mobilisiert werden. Der Effekt der burgenländischen Industrialisierungsbemühungen zwischen 1955 und 1961 war zwar ein anderer, als ursprünglich beabsichtigt, aber dennoch ein positiver: Wohl gelang es nicht, die Unausgewogenheit auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen, die Ausweitung des Beschäftigtenstandes auf dem gewerblichen Sektor bedeutete aber doch eine gewisse Kräftigung der burgenländischen Wirtschaftsstruktur". K.Bachinger, Geschichte der gewerblichen Wirtschaft des Burgenlandes. S. 256
Große regionale Unterschiede - "Notstandsgebiet Bezirk Jennersdorf"
"Wie aus einer Aussendung des Institutes für Wirtschaftsforschung hervorgeht, rangiert der Bezirk Jennersdorf ... abgeschlagen an letzter Stelle aller 97 politischen Bezirke Österreichs.
So beläuft sich das Inlandsprodukt (Wert der erzeugten Güter und Leistungen) des Bezirkes auf nur 32,2 % des österreichischen Durchschnittes. Auch das Volkseinkommen der Bewohner des Bezirkes Jennersdorf ist das geringste aller österreichischen Bezirke, es erreicht kaum die Hälfte des Bundesdurchschnittes ..." (BF 10.Feber 1967, S.10)