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Nem, nem, soha! (Nie, nie, niemals!)

Der Untergang der Donaumonarchie wurde auch in Österreich als unvorstellbare Katastrophe empfunden. Hier war man sich allerdings schon lange der Zerbrechlichkeit der westlichen Reichshälfte bewusst. Ganz anders in Ungarn: Die staatliche Einheit des Karpatenbeckens war naturgegeben und gottgewollt, ein unantastbares Dogma. Die Einheit und Unteilbarkeit des heiligen Stephansreiches stand nie in Frage, wurde nie diskutiert und der Wunsch der nationalen Minderheiten nach Gleichberechtigung nie zur Kenntnis genommen. Der Zerfall Ungarns war ein Schock, eine Schmähung, eine Beleidigung des ungarischen Selbstwertgefühls.  Die Öffentlichkeit weigerte sich, diesen Zerfall als Realität zu akzeptieren und es war für die gesamte Bevölkerung, besonders für die Intelligenz, eine Selbstverständlichkeit, bei jedem Anlass - im Militär, in den Schulen, bei Veranstaltungen jeder Art -  auf die Ungerechtigkeit und auf die Unhaltbarkeit der Friedensverträge hinzuweisen. Die Revision dieser Verträge wurde als erste und heiligste Aufgabe der Ungarischen Politik, als Herzensanliegen jedes Ungarn, unabhängig von Parteizugehörigkeit, betrachtet. Nach der Konsolidierung des konservativen  Ungarn in der Gegenrevolution sah man die Ursachen des wirtschaftlichen Elends auch nicht in den sozialen Strukturen und im Versagen der alten Eliten, sondern ausschließlich in der Zerstückelung des alten Ungarn. Der Revisionismus war also auch ein Blitzableiter, der von den nötigen gesellschaftlichen Reformen ablenkte und die Machteliten weiterhin ungeschoren ließ. Die Sozialdemokraten verlangten zwar auch eine "innere Revison", traten aber auch für die Wiederherstellung des alten Ungarn ein. Im Programm der Einheitspartei Bethlens hieß es: "Wir halten unentwegt an den alten Grenzen unserer tausendjährigen Heimat fest. Wenn wir auch den uns aufgezwungenen Frieden annehmen, werden wir niemals auch nur auf einen Fußbreit Bodens unserer alten Heimat verzichten". Die Revison der Verträge wurde in Form von Glaubensbekenntnissen und Gebeten beschworen:

"Ich glaube an Gottes allmächtige Hand, ich glaube an ein teures Vaterland, ich glaube, dass Gerechtigkeit ewig besteht, ich glaube fest, dass Ungarn aufersteht!"

Eine "ungarische Revisionsliga" wurde gegeründet, die die Aufgabe hatte, das ungarische Anliegen weltweit bekannt zu machen. 1927 umfasste sie angeblich 100 000 Vereine und Institutionen mit zusammen 2 Millionen Mitgliedern.

Die offizielle Außenpolitik Ungarns  hielt sich freilich mit revisionistischen Forderungen zurück, da man sie als unrealistisch erkannte. Man setzte auf Abwarten und auf Zeit. Das rief innenpolitisch viel Unzufriedenheit mit der Regierung Bethlen hervor. Im Gegensatz zur ungarischen Öffentlichkeit beurteilte der Regierung auch die Initiative Lord Rothermeres realistisch. Unter der Regierung Károlyi wurde diese Politik fortgesetzt.

Zumindest offiziell sah man die "Burgenlandfrage" mit der Ödenburger Volksabstimmung als abgeschlossen an. Im Jänner 1922 besuchte der ungarische Ministerpräsident István Bethlen Wien. In den Gesprächen stellte Bundeskanzler Schober den Verbleib Ödenburgs bei Ungarn als "Verzicht" Österreichs dar. Er meinte, Ungarn müsse die Größe des Opfers im Interesse eines friedlichen Ausgleiches würdigen. Denn das Geheimabkommen zwischen Renner und Benes hätte durchaus auch andere Möglichkeiten geboten - Die Tschechoslowakische Republik wäre im Falle eines Krieges zur Unterstützung Österreichs verpflichtet gewesen. Bethlen erwartete von Österreich freilich auch die Eindämmung der ungarischen Exilopposition, die sich in Wien gesammelt hatte, vor allem der linken Gruppierungen.

Ganz anders als auf staatlicher Ebene waren aber die Verhältnisse auf Komitatsebene und besonders im Grenzraum. Die Freischärlerverbände waren zwar von der Regierung aufgelöst worden, ihre Netzwerke und ihre Ziele blieben aber bestehen. In Westungarn waren zudem die legitimistischen Kreise nach wie vor aktiv. Obwohl die beiden Lager in der Königsfrage heftig zerstritten waren, war man sich in der Frage einer Rückgewinnung Westungarns durchaus einig. Verbindungen zu rechtsgerichteten Kreisen in Österreich waren im Entstehen und sogar ein "Marsch auf Wien", um der "roten Wirtschaft" ein Ende zu bereiten, wurde erwogen. Die rechtsgerichteten, von der Regierung kaum zu kontrollierenden Verbände wie die ÉME (Verein der erwachenden Ungarn, anti - legitimistisch) und das MOVE (Ungarischer Landeswehrkraftverband) versuchten, die Legitimisten einzubinden.

Am 19. Jänner 1922 hielt Graf Antal Sigray, der frühere Oberregierungskommissär in Westungarn und die führende Persönlichkeit im legitimistischen Lager, eine Rede in der Nationalversammlung. Er wandte sich entschieden gegen die Auflösung der Freischärlerverbände und verlangte statt der Erfüllung des Friedensvertrages eine Politik von "Blut und Eisen". Im Bezug auf das Burgenland sagte er: " Nun haben wir denn auf diese Gebiete verzichtet? Nun, können wir etwas dafür, dass wir jeden Fußbreit Bodens, jeden Strauch, jeden Graben und jedes Haus Westungarns lieben und wir uns davon nicht trennen können?" Eine weitere bedeutende Persönlichkeit  im legitimistischen Lager waren der Bischof von Steinamanger, János Mikes, auf den sich auch die Ungarnfreunde im Burgenland stets stützen konnten, ebenso wie auf den Raaber Bischof Fetser. Eine starke Position hatte der Legitimismus auch in der Ödenburger Forst- und Montanhochschule. Besonders eifrig für eine Wiedergewinnung des Burgenlandes agierten natürlich jene Personen, die vor dem Einmarsch der Österreicher das Burgenland verlassen hatten, weil sie kompromisslos für Ungarn waren: Beamte, Notäre, Lehrer, Geistliche.

Trotz der Auflösung der Freischarverbände gab es entlang der burgenländischen Grenze noch immer bewaffnete Gruppen, die auf den Meierhöfen der Großgrundbesitzer Unterschlupf gefunden hatten. Sie provozierten immer wieder Zwischenfälle.

1922 lebte die Freischarenorganisation wieder auf, Prónay und Hejjas  rechneten bereits mit 12 000 Mann, ausgerüstet auch mit etwa 150 Maschinengewehren aus den Beständen der ehemaligen österreichisch-ungarischen Armee. Dies war eine beachtliche Streitmacht, über deren Absichten man allerdings in Wien durch eingeschleuste Vertrauensleute gut informiert war. Der österreichische Botschafter in Budapest schlug Alarm. Der ungarische Außenminister Bánffy versuchte zu beschwichtigen und stellte die Freischaren als unbedeutende verantwortungslose Elemente dar. Eine Freischar, die in Egervár untergebracht war und aus Siebenbürgern und Burgenländern bestand, wurde zerschlagen, ein Teil der Mitglieder verhaftet. Diese Gruppe hatte lautstark verkündet, dass sie einen Angriff auf Güssing plante. Eine andere Gruppe, die sich in St. Gotthard aufhielt, wurde ebenfalls aufgelöst. Die größte Freischärlergruppe, etwa 300 Mann, hielt sich getarnt als Landarbeiter, in Mexikopuszta unmittelbar an der Grenze auf. Sie blieb unbehelligt, wurde von den ungarischen Behörden lediglich beobachtet. Am 12. März kam es bei Appetlon zu einem Grenzzwischenfall, wobei ein österreichischer Zollbeamter getötet wurde.

Unruhe entstand auch durch die nunmehr erfolgende endgültige Festlegung der Grenze. Am 10. Jänner 1922 kamen Großdorf, Pernau und Kroatisch Schützen wieder an Ungarn. Die Ungarn erhoben weit reichende Forderungen, die aber sowohl vom österreichischen Parlament wie auch von der Grenzfeststellungskommission in Ödenburg zurückgewiesen wurden. Die kroatischen Gemeinden des Pinkatales sprachen sich demonstrativ für Ungarn aus. Durch Propagandaaktionen und durch entsprechende Artikel in der ungarischen Regionalpresse, die ja vielfach noch von den Burgenländern gelesen wurde, verbreitete sich 1922 Unruhe in den Grenzgemeinden. In Ungarn berichtete man vom österreichischen Terror gegen die Ungarnfreunde. Vereinzelt wurden tatsächlich besonders aggressiv auftretende Magyarophile aus den Gemeindeversammlungen entfernt, einige wie etwa der Notär von Lockenhaus und der Kreisrichter von Rechnitz, verhaftet.Verhaftet wurde auch Jószef Kuntár aus Großnahring, ein proungarischer Kroate.  In Rechnitz bestand auf österreichischer Seite eine "Freischar" unter der Führung von Benno von Braitenberg, Leiter der Grenzpolizeistelle und früher Freikorpskämpfer in Oberschlesien.

Die ungarischen Behörden versuchten das Verhalten der Bevölkerung zu Gunsten Ungarns zu beeinflussen - durch Überredung, aber auch durch massiven Druck. Bekannt ist etwa das Vorgehen der ungarischen Gendarmerie in Luising, wo der Ort umstellt wurde und der Bevölkerung - vergeblich - Unterschriftenlisten zugunsten Ungarns vorgelegt wurden. Ebenfalls in Luising sollte die Grenzfeststellungs-kommission getäuscht werden.

Im Juli 1922 eskalierte die Situation an der südburgenländischen Grenze. Die ungarischen Freischärlerverbände beschlossen in Budapest einen  Überfall auf die Gemeinde Hagensdorf. In Österreich war man über die geplante Aktion am 22. Juli längst informiert. Die Gendarmerie wurde verstärkt und konnte den Angriff der etwa 60 Freischärler in einem zweistündigen Gefecht abwehren. Der Vorfall wurde von der ungarischen Regierung zum Anlass genommen, um nun gegen die Freischärler energisch vorzugehen. Hejjás wurde in Budapest verhaftet, bald aber wieder freigelassen. Die Hintermänner der Aktion, Graf Sigray und György Hír, konnten wegen ihrer parlamentarischen Immunität nicht belangt werden. Als der österreichische Gesandte in Budapest, Cnobloch, dem Reichsverweser Horthy gegenüber vorwarf, man wäre zu spät gegen die Freischärlerkader vorgegangen, antwortete dieser: "Ich kann doch nicht meine besten Freunde und meine bravsten Offiziere hängen lassen, wenn sie aus reiner Vaterlandsliebe und ohne jegliches persönliches Interesse zu weit gegangen sind". (zitiert nach Haslinger, S.60)

Im Burgenland fanden alle Aktionen der ungarischen Revisionisten wenig Anklang. Die Zahl der im Lande ansässigen Magyaren war zudem stark zurückgegangen. Die erste Volkszählung 1923 ergab, dass der Anteil der Ungarischsprachigen seit 1920 von 24 867 (8,4 %) auf 15.254 (5,3 %) gesunken war. Die Bereitschaft, sich als Magyare zu deklarieren, nahm also ab. Natürlich fiel auch der Abzug ungarischer Verwaltungsbeamter und Lehrer mit ihren Familien ins Gewicht. Die ungarische Minderheit nahm die Zugehörigkeit zu Österreich erstaunlich gelassen hin und verhielt sich zurückhaltend, aber loyal. Nur vereinzelt kam es zu Schmieraktionen, etwa auf österreichischen Postkästen.

Ein interessantes Phänomen ist die Tatsache, dass auch noch nach dem Anschluss die in ungarischer Zeit magyarisierte "Oberschicht", Verwaltungsbeamte, Pfarrer, Lehrer, Notäre, aber auch Gewerbetreibende - an der ungarischen Sprache festhielten, nicht als Ausdruck einer nationalen Zugehörigkeit, sondern der Zugehörigkeit einer sozialen Schicht, der Schicht der Gebildeten, der Intelligenz. Die ungarische Sprache war ein Merkmal des Sozialprestiges dieser Gruppen, ihr Festhalten an der Sprache war ein Festhalten an den gesellschaftlichen Hierarchien des alten Ungarn und natürlich zunehmend realitätsfremd.  Der Großteil der Bevölkerung des Burgenlandes lehnte dieses Verhalten ab, keineswegs den Gebrauch der Sprache, aber das damit verbundene "elitäre" Gehabe.

Man darf nicht vergessen:  Mit der neuen politischen Situation waren oft schwere persönliche Identitätskrisen verbunden, da die stark prägende ungarischnationale Erziehung natürlich nicht von heute auf morgen über Bord geworfen werden konnte. Besonders häufig fand man das unnachgiebige Festhalten an der magyarischen Sprache im katholischen Klerus. Daraus ergaben sich immer wieder Konflikte in den Gemeinden, bis weit in die 20er und 30er Jahre hinein - verbunden mit der politischen Auseinandersetzungen zwischen Christlichsozialen einerseits, Sozialdemokraten und Großdeutschen/Landbündlern andererseits. Das Herrengehabe eines sicher nicht typischen magyaronischen Pfarrers von Parndorf schildert Stehlik in seinem autobiographischen Roman "Dorniger Weg": der Pfarrer trat in Reithosen, Krawatte und in Begleitung eines Hundes auf und weigerte sich, deutsch zu sprechen. Ein anderer Fall war der Pfarrer von Zagersdorf, der die österreichischen Behörden immer wieder demonstrativ  provozierte.

Wie gefestigt war das Zugehörigkeitsgefühl zu Österreich? In verschiedenen Polizeiberichten und in den Berichten der Landesregierung wurde zumeist die wachsende Österreichfreundlichkeit betont, gelegentlich aber auch darauf hingewiesen, dass eine gewisse Distanz nicht nur zu Ungarn, sondern auch zu Österreich bestand. So wurden die Beamten als "die Österreicher" bezeichnet, wenn man über Leitha und Lafnitz ging, ging man "nach Österreich" - dies wurde von Nichtburgenländern gelegentlich als Distanzierung gesehen, war aber nur der alte Sprachgebrauch und hatte nichts mit einer Absetzung zu tun. Ein Landesbewusstsein begann sich nur langsam auszubilden. Am stärksten waren neben den unangenehmen Erlebnissen im Anschlusskampf die wirtschaftlichen Argumente, die je nach persönlicher Situation für den Anschluss an Österreich sprachen oder auf die "gute alte Zeit" in Ungarn zurückblicken ließen. Gegen Österreich sprach der größere Steuerdruck und die konsequentere, für viele "ungerechte" Steuereinhebung, die hohe Inflation (die aber auch Ungarn nicht erspart blieb), die Marktbeziehungen, die vor allem die Dörfer an der Grenze zu Ödenburg stark benachteiligten (Baumgarten, Schattendorf, Loipersbach, Rohrbach, Deutschkreutz ...), die weit geringere Entlohnung von Beamten und Lehrern.

Ein riesiges Problem war die Verweigerung von Krediten durch österreichische Banken an burgenländische Unternehmer und Bauern, während die ungarischen Banken ohne Probleme einsprangen. Zusätzlich verschärft wurde die Situation noch dadurch, dass die Grundbücher noch immer in Ungarn waren. Die Bevölkerung wurde durch die Kreditverweigerungen verunsichert und leitete davon ab, dass der Verbleib bei Österreich vielleicht doch nicht endgültig sei.

In einigen Orten, besonders in Güssing und Oberwart, entfalteten magyarophil gesinnte Gruppen, frühere Beamte und im Dienste der Großgrundbesitzer stehende Personen, eine rege Aktivität. Tibor Farsky etwa, ein ehemaliger ungarischer Offizier, der österreichischer Staatsbürger geworden war und in Oberwart lebte, war in den Vereinen äußerst aktiv. Nach dem Scheitern des Überfalls auf Hagensdorf verschwanden einige Pfarrer, Lehrer und Notäre, die offenkundig auf eine größere Aktion gehofft hatten.

Besonders interessant ist die Einstellung der Großgrundbesitzer, von denen die Esterházy, Erdödy und Almásy als eindeutig ungarnfreundlich bekannt waren. Sie hielten sich aber von offenen Aktivitäten fern, da sie Güter dies- und jenseits der Grenze hatten. Die im Burgenland immer wieder verlangte Bodenreform bedrohte ihren Besitzstand. Ihre Verbindungen zu revisionistischen Kreisen waren aber bekannt, so etwa die der Erdödy und besonders der Antonia Erdödy, eine geborene Wienerin, die an den Bandenkämpfen beteiligt war, aus Österreich ausgewiesen worden war und in Güns lebte, zum ehemaligen Freischarführer Egan. Auch angehörige der Familie Esterhazy wurden verdächtigt, zumindest vom Überfall auf Hagensdorf gewusst zu haben. Paul Esterhazy wurde nach entsprechenden Meldungen in Budapest vorgeworfen, er hätte so wie auch der ehemalige Erzherzog Friedrich versucht, die Grenzfeststellungskommission zu beeinflussen.Die burgenländische Landesregierung beschloss die Einleitung eines Verfahrens wegen staatsfeindlicher Betätigung gegen Esterhazy. Der Anwalt Esterhazys wies die Vorwürfe zurück. Ohne jeden Zweifel aber war die gesamte Gutsverwaltung, besonders die Fortsverwaltung, in den Esterhazybetrieben strikt ungarisch-national ausgerichtet und die Angestellten betätigten sich in diesem Sinne. Wer wenig Eifer erkennen ließ wurde ohne Aufsehen entlassen und durch ungarisches Personal ersetzt. Andererseits gelang es etwa nicht, den magyarophilen Forstrat Ronáy in Lackenbach ausweisen zu lassen. 

Eine Quelle ständiger Ärgernisse war auch der Einfluss Paul Esterhazys auf die katholische Kirche. Er war ja Patronatsherr über 73 katholische Pfarren und setzte die Pfarrer ein. Die Ernennungen mussten zwar von Kardinal Piffl bestätigt werden, doch dieser galt als besonders ungarnfreundlich. Ein Verwalter Esterhazys gab unumwunden zu: Ein Geistlicher, der in einer dieser Pfarreien unterkommen will, muss ein guter Magyare sein. Bischof Mikes von Steinamanger, zu dessen Diözese das Südburgenland gehörte, schreckte ebenfalls nicht vor revisionistischen Äußerungen zurück. Auf burgenländischem Gebiet erklärte er, die Grenze würde bald wieder bei Fürstenfeld verlaufen. Viele Pfarrer benützten die Kanzel, um gegen den Anschluss an Österreich zu agitieren, um manche Pfarrer sammelte sich die antiösterreichische Opposition. So galt etwa die Franziskanerkirche in Eisenstadt, in der nur ungarische Lieder gesungen wurden und die Gottesdienste vom Esterhazyschen Verwaltungspersonal besucht wurden, als ein solches Zentrum., ebenso das Frauenkloster in Rechnitz um die Äbtissin aus der Familie Weckerle. In solchen Kirchen wurde auch weiterhin der St. Stephanstag, der ungarische Nationalfeiertag, weiterhin demonstrativ besonders feierlich begangen.

Auch unter den Lehrern, die sich größtenteils bemühten, den neuen Anforderungen gerecht zu werden, gab es unzufriedene und die Notäre wurden zwar in das österreichische Verwaltungssystem übernommen, wurden aber schlechter bezahlt und mussten nunmehr, wie ein Gendarmeriebericht boshaft vermerkt, auf ihre lukrativen Winkeladvokaturen verzichten. Den häufigsten Anlass zu Protesten der Bevölkerung gab das Bahnpersonal. Auf der Strecke Güssing - Körmend weigerten sich die Bahnangestellten, deutsch zu sprechen und auch auf der "Raaberbahn" wurden fast nur Ungarn beschäftigt.

Vereinzelt kam es auch zu Flugblattaktionen, die immerhin in einigen Gemeinden, etwa im Pinkatal, zur Beunruhigung der Bevölkerung beitrugen, auch wenn die Stimmung dort inzwischen eindeutig proösterreichisch war. Eine solche Aktion richtete sich an die Evangelischen mit der Behauptung, der Protestantismus würde in Österreich unterdrückt. Ein katholisches Flugblatt warnte vor dem Anschluss an Deutschland und den dann vorherrschenden Protestantismus oder - für den Fall der Zerstückelung Österreichs, vor einem Anschluss an die Tschechoslowakei und den dort herrschenden "Hussiten". ... Immer wieder gelangten auch Gerüchte in Umlauf, dass die ÈME einen Einfall ins Burgenland plane, dass Agenten mit viel Geld unterwegs wären, um Unterstützung zu gewinnen. Besonders in den kroatischen Gemeinden sollte angeblich geworben werden. In einem Flugblatt von April 1923 hieß es: "An die Kroaten! Durch die sklavischen Bestimmungen des Friedensvertrages von Trianon wurdet ihr Österreich angegliedert, um Sklaven der deutschen Kultur zu werden. Ihr, die ihr seit jeher dem ungarischen Vaterlande treu wart, wurdet durch Gewalt und gegen euren Willen von ihm abgetrennt. ... Der deutsch - österreichische Kanzler Seipel, der mit dem Pilgerhute in der Hand wie ein Bettler in der Welt um Geld schnorrt, hat Euch auf seinen Reisen nach Rom, Belgrad und Prag verkauft. Die Serben und Tschechen wollen über euren Rücken einen Korridor schaffen um sich zu vereinigen und Euch zu vernichten ... Aber die ungarischen Brüder denken an Euch. Sie wollen nicht, dass man Euch verkauft wie einen Fetzen, sie wollen Euch wieder mit dem Vaterlande vereinigen."  (zitiert nach P. Haslinger, S. 93) Die ÉME verlor aber an Bedeutung. Sie wurde ersetzt durch die zügig ausgebaute Levente, die halboffizielle paramilitärische Jugendorganisation. Sogar Mädchenverbände wurden aufgestellt. Die Leitung der Levente hatten zunächst noch lokale Honoratioren, besonders oft Lehrer und Notäre, sie wurden aber schrittweise durch ehemalige Offiziere, im Grenzgebieten auch durch Offiziere der Grenzwache, ersetzt. Die Levente erfasste die gesamte männliche Jugend im Alter von 14 bis 21 Jahren, von Freiwilligkeit war bald keine Rede mehr. Die Verbände waren nur unvollständig uniformiert und bewaffnet, versuchten aber Waffen anzukaufen. Wöchtentlich fanden ein bis zweimal Exerzierübungen statt. Wenn ein Jugendlicher nicht oder nicht pünktlich erschien wurden Strafgelder in beträchtlicher Höhe eingehobe, bis zur Pfändung der Familien. Die Polzei holte etwa in Ödenburg fernbleibende Jugendliche ab. Körperliche Züchtigung war an der Tagesordnung. An Sonntagen wurden "Schulungen", meist in der Schule, abgehalten. Auf zahlreichen Veranstaltungen mit militärischem Gepräge wurden patriotische und revisionistische Reden gehalten und immer wieder an die "besetzten Gebiete" erinnert.

Auch die regionalen Zeitungen Westungarns hielten die  Wut über den Verlust des Burgenlandes am Kochen. In vielen Artikeln wurden die Zustände im Burgenland in den schwärzesten Farben geschildert, von Gewalt und Willkür der Beamtenschaft, "eine Horde von Idioten", von Exzessen gegen die magyarische Bevölkerung,  berichtet, die "kommunistische" Unterwanderung beschworen.

Während Großdeutsche und Landbündler sowie die Sozialdemokratie eindeutig proösterreichisch  war, war das Verhältnis der Christlichsozialen zum Anschluss und zum neuen Vaterland wesentlich komplizierter. Zwar war die burgenländische Parteiführung unmissverständlich für Österreich, noch immer aber bestanden auf örtlicher Ebene zum Teil die alten Strukturen und die Verbindungen zu den Gesinnungsfreunden jenseits der Grenze. So wurde manchen Christlichsozialen noch lange vorgeworfen, wie wären "Magyaronen". Besonders übertrieben drückt dies ein Artikel in der sozialdemokratischen BF vom 4.März 1927 aus: " Die christlichsoziale Partei Altösterreichs liebäugelt mit dem Magyarentum, weil sie von dorther die Verwirklichung ihrer monarchistischen und kirchenpolitischen Lieblingspläne erhofft: Der klerikale Flügel der christlichsozialen Partei des Burgenlandes dagegen huldigt den Ungarn, weil er mit Recht den aufklärerischen  österreichischen Einfluss  fürchtet, weil er im Burgenlande die alten Vorrechte des Klerikalismus nicht mehr aus eigener Kraft schützen kann und darum überhaupt die Wiederkehr der Magyarenherrschaft ersehnen muss. Hier wird uns offenkundig, warum bisher gegen die ungarische Agitation und das freche Gehabe magyaronischer Kreise im Burgenlande nicht mit aller Strenge und Tatkraft vorgegangen wurde. ... Die klerikale Bande weiß eben zu gut, dass jenes magyaronische Gelichter zu 'ihren Leuten' zählt.  Darum hat sich die christlichsoziale Partei des Burgenlandes bei jeder Gelegenheit für ihre hochverräterischen magyaronischen Freunde eingesetzt, darum auch hat die christlichsoziale Partei Österreichs unermüdlich jede magyarische Irridenta im Burgenlande abgeleugnet." Hier wurde der Revisionsvorwurf gegen die Ungarn zum innenpolitischen Kampfargument. Die Christlichsozialen ihrerseits wiesen immer wieder, durchaus mit Erfolg in der Bauernschaft, in Erinnerung an die Rätezeit auf die Gefahren hin, die vom "roten Österreich" und besonders vom "roten Wien" drohten. Im April 1924 etwa schrieb das christlichsoziale Burgenländische Volksblatt: "Man hat bei uns große Sehnsucht nach Österreich gehabt, als die Fuchtel eines Belá Kun im Lande herrschte. Damals war es Österreich nicht möglich, Burgenland zu befreien, so gern man es wollte. Und als sich im ungarischen Nachbarreiche dann das Blatt wandte und eine Regierung ans Ruder kam, die mehr Sicherheit verbürgte als die Regierung eines Staatskanzler Renner, da war eben das burgenländische Volk von Misstrauen erfüllt und wusste nicht recht ob es besser sei in Horthyungarn oder im roten Österreich. Dieses Misstrauen brachte man vor allem der österreichischen Beamtenschaft entgegen, da man in jedem Beamten gleich einen verkappten Sozialisten fürchtete." (zitiert nach Peter Haslinger, S.123)

Trotz all dieser Fakten gab es zu keiner Zeit im Burgenland eine revisionistische Organisation und auch keine ernsthafte Bedrohung des Landes durch den ungarischen Revisionismus. Dies wurde von der burgenländischen Regierung einmütig auch immer wieder betont. Zugleich aber konnte man aber auf Seiten der Sozialdemokraten aber - besonders im Zusammenhang mit den Ereignissen von Schattendorf - der Versuchung nicht widerstehen, immer wieder diese Gefahr herauf zu beschwören und damit die Bevölkerung zu verunsichern.

Schon im Sommer 1927 ging Leser in einer viel beachtete Rede in Regensburg, auf einer Tagung des Deutschen Schutzbundes, wo er die Situation des Burgenlandes, die Angriffe der magyarischen Revisonisten, die schwache Gegenwehr der österreichischen Regierung schilderte und das ganze deutsche Volk zur Hilfe für das Burgenland verpflichtete. Heftige Reaktionen in Ungarn waren die Folge, da Leser auch auf die vielen, bei Ungarn verbliebenen Deutschen in Westungarn und auf die Unregelmäßigkeiten in der Ödenburger Volksabstimmung hinwies.  Im Verlauf des Jahres 1927 drängte die Opposition im österreichischen Parlament immer vehementer auf eindeutige Stellungnahmen der Regierung in Richtung ungarischem Revisionismus, so etwa der großdeutsche Abgeordnete Hampel am 4. November und  Renner in der Nationalratssitzung am 25. November. 

 Diesem Drängen gab Bundeskanzler Seipel schließlich nach und erklärte, dass er die formale Versicherung der ungarischen Regierung habe, dass die Grenze definitiv sei. Dies hatte in Ungarn einen Sturm der Entrüstung zur Folge und brachte die ungarische Regierung in Bedrängnis. Die Zeitung Magyarság schrieb: "Wir setzen nicht einmal von der gegenwärtigen Regierung voraus, dass sie auf diese Art verzichtet und sich freiwillig mit dem schändlichsten und perfidesten Leichenraub der Weltgeschichte zufrieden gibt. ... Über dieses Attentat kann die ungarische Regierung nicht länger schweigen, denn man kann die tausendjährigen Rechte der Nation nicht insgeheim gewissenlos verschleudern. ... Dieser Verzicht der ungarischen Regierung entbehrt jeder Kompetenz und Rechtswirksamkeit. Wir erwarten das energische und bestimmte Dementi der Regierung, im entgegen gesetzten Fall aber eine Bewegung und einen sofortigen Protest der ungarischen Gesellschaft, der ein für allemal die gewissenlose Aufgabe der tausendjährigen Rechte der Nation und die verhängnisvolle Kompromittierung  unserer ganzen Integritätsbewegung ausschließt." (zitiert nach Haslinger, S. 130) Das Burgenland müsse wieder an Ungarn angeschlossen werden, der Burgenländer betrachte noch immer Ungarn als sein Heimatland, und wenn die österreichische Regierung nicht darauf eingeht, dann "werden in Westungarn die Flammen bis zum Himmel schlagen." (ebenda). Die ungarische Regierung bestritt schließlich, jemals eine derartige Zusage gemacht zu haben.

Einen neuen Höhepunkt erreichte der Konflikt jedoch am 14. Oktober 1928, als der Ministerpräsident Bethlen anlässlich der Einweihung des "Treuetores" in Ödenburg in seiner Rede erneut bekräftigte, man habe auf "Westungarn" (Burgenland) nie verzichtet: "Es soll der Stadt Sopron zum Trost gereichen, dass es eine ehrliche Sache ist, für die sie sich entschied. Und noch einen Trost soll sie haben, den, dass wir auf die Gebiete, die von uns abgetrennt worden sind, nicht freiwillig verzichtet haben, dass sie uns durch die Gewalt der Macht entrissen wurden." In Venedig sei nie die Rede davon gewesen, "dass wir auf Westungarn verzichten sollen ...Es kam zur Volksabstimmung, zur einzigen, die wir entgegen den Bestimmungen des Friedensvertrages zu erzwingen vermochten, und sie lieferte den Beweis dafür, dass die Voraussetzung, von der der Vertrag von Trianon ausgegangen war, grundfalsch ist" da ja hier eine nicht ungarischsprachige Bevölkerung "in Liebe und Treue" bei Ungarn ausgeharrt habe. Er sei davon überzeugt, schloss Bethlen, dass eine Zeit kommen wird, in der die Sonne der Gerechtigkeit wieder in ihrem vollen Glanz erstrahlt, und ich halte es für ganz ausgeschlossen, dass sich unsere ehemaligen Verbündeten auf das Recht des Siegers berufen können ... ich halte es für ganz ausgeschlossen,  dass sie sich an diesem Tage der Forderung widersetzen könnten, diese Frage im Einvernehmen mit Ungarn und durch Befragung des Volkes zu lösen. Und vergeblich dringen von jenseits der Grenze Stimmen zu uns herüber, die da sagen, dass an der Grenze des Burgenlandes ein Volk von siebzig Millionen Wache hält." Mit dem letzten Satz spielte Bethlen darauf an, dass - für den Fall eines Anschlusses Österreichs an Deutschland man die "Rückgabe" des Burgenlandes erwartete. (Neue Freie Presse, 18.10. 1928)

Erst Ende 1928 legte sich die Aufregung und es begann eine Zeit der Deeskalation in der Burgenlandfrage. Bethlen wie Seipel versprachen, extreme Aussagen und Angriffe wenn möglich zu verhindern. Die Zusammenarbeit, um die österreichische Sozialdemokratie zurück zu drängen, kam in Schwung und die beginnende Weltwirtschaftskrise machte beiden Staaten Probleme. Am 26. Jänner 1931 wurde ein Freundschafts-. Vergleichs- und Schiedsgerichtsvertrag abgeschlossen.

 

 

 

 

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Quellen

  • Peter Haslinger, Der ungarische Revisonismus und das Burgenland.1922-1932. Peter Lang Verlag 1994
 

 

 

 
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