Am Zustandekommen des Venediger Protokolls war der damalige Bundeskanzler Schober wesentlich beteiligt. Es hatte die "Volksabstimmung" in Ödenburg zur Folge. Unleugbare Tatsache ist heute jedenfalls, dass Ödenburg lange vor der "Abstimmung" geopfert wurde. Und Tatsache ist auch, dass die "Abstimmung" eindeutig zugunsten Ungarns ausging. Bei allem Druck, bei allen Manipulationen, bei allen Schwindeleien, die es in Ödenburg gegeben hat, muss man doch als Tatsache anerkennen, dass ein erheblicher Teil der Deutschen Ödenburgs ihre Stimme für Ungarn abgab. Wir kennen die lange Vorgeschichte, die Enttäuschungen, die massive Propaganda vor allem auch von Seiten der beiden Kirchen für Ungarn. Wir wissen auch: die deutschen Ödenburger wollten alles andere als den magyarischen Nationalstaat. Sie wollten lediglich das bleiben, was sie immer waren, nämlich gute, loyale, fleißige Deutsche im Königreich Ungarn, das ja zu einem wesentlichen Teil früher auch "ihr" Ungarn war. Diese Denkweise war ein Fehler. Viele tausend deutsche Familien Ödenburgs haben ihren Irrtum bitter bezahlt, mit der Enteignung und Vertreibung im Jahre 1946.
Am 13. Oktober 1921 unterzeichneten - nachdem der erste Landnahmeversuch Österreichs am nicht ausreichenden Einsatz und am Widerstand der "Freischärler" gescheitert war, der österreichische Bundeskanzler Schober, die Vertreter Ungarns, Graf Bethlen und Graf Bánffy, und der italienische Außenminister Marchese della Torretta in Venedig den verhängnisvollen Vertrag, der das Schicksal Ödenburgs besiegelte.
Wie konnte es dazu kommen, warum verzichtete Österreich auf ein Gebiet, das ihm im Friedensvertrag bereits zugesichert war?
Die Venediger Protokolle hatten eine lange Vorgeschichte, über die wir seit den Forschungen von Frau Dr. Lindeck - Pozza im Zentralstaatsarchiv und im Archiv des italienischen Außenministeriums in Rom genauer Bescheid wissen. Die Italiener hatten sich schon seit Kriegsende als Vermittler betätigt. Sie waren ursprünglich gegen eine Abtretung Westungarns an Österreich, wollten aber auch eine tschechische Intervention, also den slawischen Korridor zwischen der Tschechoslowakei und Jugoslawien auf dem Gebiet des heutigen Burgenlandes verhindern. Als Renner zu Ostern 1920 zu einem Staatsbesuch in Rom weilte gaben die Italiener zu erkennen, dass sie Österreich bei der Durchsetzung des Friedens von St. Germain, also vor allem in der Burgenlandfrage, unterstützen würden. Am 4. September 1920 ersuchte Staatskanzler Renner den damaligen italienischen Gesandten in Wien, Torretta, um Vermittlung mit Ungarn. Renner wollte zwar auf Westungarn bestehen, war aber bereit, Zugeständnisse "in Form gewisser Grenzberichtigungen" zu machen. Was von Renner als ehrliche Kompromissbereitschaft gemeint war wurde natürlich in Ungarn ganz anders gesehen. "Grenzberichtigungen" waren für die Ungarn die geringfügige Korrektur der alten Grenze an Leitha und Lafnitz. So zeigte Ungarn zwar Bereitschaft zu Verhandlungen, nicht aber zur Räumung Deutschwestungarns. Die Verhandlungen scheiterten schließlich im Oktober 1920, als Renner im Wahlkampf die Verbindung der Wiener Christlichsozialen zu Ungarn und die Finanzierung der schwarzen Presse durch die Ungarn aufdeckte. Natürlich antworteten die Ungarn durch Offenlegung der Beziehungen der Rennerregierung zur bolschewistischen Räteregierung...
Die Christlichsozialen gewannen die Wahl, die Ungarn erwarteten nun das versprochene Entgegenkommen. Neuerliche geheime Verhandlungen begannen, unter anderem von Vertretern der Christlichsozialen, also einer politischen Partei - eine nicht gerade übliche Form des diplomatischen Verkehrs, auch nicht in der damaligen Zeit.
Die Botschafterkonferenz setzte schließlich die Übergabe des Landes an Österreich mit Ende August 1921 fest. Eine Ententekommission sollte das Land von Ungarn übernehmen und an Österreich übergeben. Diese Übergabe am 27. August wurde von den Freischärlern - wie bereits geschildert - verhindert. Italien reagierte darauf recht heftig. Es verlangte die sofortige Erfüllung des Friedensvertrages. Torretta sah wieder die Gefahr des slawischen Korridors. Tatsächlich zogen die Tschechen Truppen zusammen und Jugoslawien gab gefährliche Warnungen ab. Die Tschechen boten Bundeskanzler Schober sogar bewaffnete Hilfe an. Torretta warnte vor solchen "Freunden", er fürchtete mit einigem Recht, die Tschechen würden als Besatzungsmacht in Westungarn bleiben. Die Italiener glaubten auch nicht an die scheinheiligen Beteuerungen der ungarischen Regierung, sie könne ja nichts für das Auftreten der Banden. Italien forderte Ungarn unmissverständlich auf, die Freischärlerverbände aufzulösen.
Trotz dieser entschiedenen Haltung war Italien schließlich für das Zustandekommen der Venediger Protokolle verantwortlich. Der italienische Geschäftsträger in Wien begann ohne Auftrag neue Verhandlungen mit Ungarn. Der Vertreter Ungarns schlug eine Einteilung in eine "Zone A" vor, die man sofort an Österreich übergeben wolle, und eine "Zone B" unter Ententeverwaltung bis zur Klärung ... Der verhängnisvolle Weg war damit beschritten. Schober erklärte sich bereit, Ödenburg bis zu einer Einigung mit Ungarn unter Ententeverwaltung zu belassen.
In Ungarn war der Widerstand stärker als je zuvor, man spürte das Desinteresse Frankreichs und Englands und man sah die offenkundige Machtlosigkeit der Generalkommission in Ödenburg. Als die Botschafterkonferenz erneut die Übergabe befahl gab es in Ungarn nur Entrüstung und Hohn. Schließlich waren die Siegermächte froh, dass Italien sich bereit erklärte, die Angelegenheit zu lösen.
Am 15. September 1921 schlug der ungarische Außenminister Banffy die Räumung des Burgenlandes vor, Ödenburg sollte dann an Ungarn zurückgegeben werden. Im Antwortschreiben aus Wien am 19. September verlangte man den Ersatz für die Errichtung einer neuen Hauptstadt. Man hatte sich mit dem Verlust Ödenburgs abgefunden. Aus "innenpolitischen Gründen" wollte man aber eine Volksabstimmung. Im Klartext: man wollte der österreichischen Bevölkerung ein Theater vorspielen. Die Dummen waren dabei jene Menschen aus Ödenburg und Umgebung, die noch an eine Chance glaubten. Sie wurden verraten und verkauft.
Protokoll,
unterzeichnet in Venedig am 13. Oktober 1921,
betreffend die Regelung der westungarischen Frage
teilweise geändert bzw. bekräftigt durch
Entscheidung des Völkerbundrates vom 19. September 1922,
Vereinbarung der beiden Vertragschließenden Staaten vom 22. November 1922,
Übereinkommen betreffend die Regelung der durch die Grenzziehung aufgeworfenen rechtlichen Fragen vom 11. März 1927 (BGBl. Nr. 93/1928),
Vertrag zwischen der Republik Österreich und der Ungarischen Volksrepublik vom 31. Oktober 1964 (BGBl. Nr. 72/1965).
Entsprechend dem Mediationsangebot Seiner Excellenz des italienischen Ministers des Äußern, Marquis della Torretta, welches durch die Entscheidungs der Botschafterkonferenz in Paris gutgeheißen und von den Regierungen Österreichs und Ungarns angenommen wurde, haben sich die Bevollmächtigten der beiden Regierungen am 11. und 12. Oktober 1921 in Venedig versammelt, um einvernehmlich die Fragen bezüglich der Gebiete Westungarns zu regeln, die Österreich in den Friedensverträgen von Saint-Germain und Trianon zugesprochen worden sind.
Österreich war vertreten durch den Bundeskanzler und Leiter des Bundesministeriums für Äußeres, Herrn Johann Schober;
Ungarn durch Seine Excellenz den Herrn Ministerpräsidenten Grafen Stephan Bethlen und Seine Exzellenz den Herrn königl. Minister des Äußern, Grafen Nikolaus Bánffy.
Nachdem die genannten Vertreter unter dem Vorsitze Seiner Excellenz des Marquis della Torretta eine genaue Prüfung der Frage vorgenommen hatten, haben sie sich über folgende Maßnahmen geeinigt, diese für notwendig gefunden haben, um die friedliche Übertragung des in Rede stehenden Gebiets an Österreich zu sichern.
I. Die von der königl. ungarischen Regierung zur Pazifizierung Westungarn durchzuführenden Maßnahmen:
Es wird der Bevölkerung durch Maueranschlag im ganzen Lande kundgemacht, daß in Venedig ein gerechter Ausgleich zustande gekommen ist und daß alle Ungarn aufgefordert werden, es als ihre oberste patriotische Pflicht anzusehen, daß sie diesen Ausgleich respektieren und der Regierung die Aufgabe erleichtern, die von ihr angenommenen Bedingungen zu erfüllen.
In diesem Aufrufe ergehen ferner unter Androhung der strengsten Strafen an die Aufständischen die Aufforderung, die Waffen unverzüglich niederzulegen und an die in Westungarn nicht zuständigen Personen die Mahnung, das Land sofort zu verlassen.
Die Presse erhält die entsprechenden Weisungen, ihre Haltung zufolge der Mitteilungen, die an sie über die in Venedig erzielte Einigung ergehen werden, zu ändern.
Die ungarische Regierung wird weiters ein Dekret veröffentlichen, demzufolge alle ihre Beamten und Offiziere ohne Unterschied, ob sie sich in Aktivität befinden oder pensioniert sind, sich den schwersten im Gesetze vorgesehenen Folgen aussetzen, wenn sie der vorerwähnten Aufforderung nicht in einem Zeitraum von zehn Tagen entsprechen. Für die während des Aufstandes begangenen Gesetzwidrigkeiten wird allen jenen Personen, die sich der erwähnten Aufforderung unterwerfen, eine Amnestie zugesagt werden, von welcher gemeine Verbrechen ausgenommen sind.
Durch Dekret wird verfügt, daß die Studierenden, die sich an der Aufstandsbewegung beteiligt haben, sich binnen zehn Tagen an ihrer Fakultät oder Schule einzufinden haben. Die Studenten, welche dieser Aufforderung nicht entsprechen, verlieren ihre Semester.
Durch Dekret wird verfügt, daß alle jene Personen, welche die den Aufständischen bisher gewährte Unterstützung in Geld oder Material nicht einstellen, nach den Bestimmungen des ungarischen Strafgesetzes über unbefugte Werbung bestraft werden sollen.
Die Garnisonen, welche gegenwärtig den Kordon bilden, werden teilweise ausgewechselt werden.
Für die Durchführung der vorerwähnten Maßnahmen ist eine Frist von mindestens drei Wochen zugestanden; jedoch können die alliierten Generale, falls ihnen dies möglich erscheint, diese Frist abkürzen.
Alle auf die Pazifizierung bezüglichen Maßnahmen müssen im Einvernehmen mit der Generalskommission getroffen werden.
Im allgemeinen erklärt die ungarische Regierung, nach Maßgabe der ihr zur Verfügung stehenden Mittel bereit zu sein, sich den Wünschen der alliierten Hauptmächte zu fügen. Die ungarische Regierung erkennt den Grundsatz an, daß alle von alliierten Regierungen verfügten Maßnahmen zur Pazifizierung die Durchführung des Friedensvertrages im Auge haben und daher von der ungarischen Regierung nicht als feindselige Akte angesehen werden können. Die Vertreter der Entente in Budapest und die Generalskommission in Ödenburg werden darüber wachen, daß die Maßnahmen in wirksamster und raschester Weise zur Anwendung gebracht werden, indem sie namentlich den Geist der vorerwähnten Maßnahmen berücksichtigen werden.
II. Sobald das in Rede stehende Gebiet von den Banden gesäubert sein wird, soll es in voller Ruhe und Sicherheit von Österreich besetzt und in Besitz genommen werden.
Es wird der Kommission der alliierten Generale in Ödenburg obliegen, festzustellen, daß diese Pazifizierung durchgeführt ist und daß demzufolge Österreich zur vorerwähnten Besitznahme des Landes schreiten kann.
Die alliierte Generalskommission in Ödenburg, der zu diesem Behufe je ein Vertreter Österreichs und Ungarns beigegeben werden, hat die Verwaltungsgerechtsame auszuüben.
Der italienische Minister des Äußern wird die zur Entsendung von Ententetruppen nach Ödenburg notwendigen Schritte unternehmen.
Acht Tage, nachdem die alliierte Generalskommission konstatiert haben wird, daß sich das Land im Zustande völliger Ruhe befindet, wird in der Stadt Ödenburg und Umgebung eine Volksbefragung erfolgen.
Es wird der Generalskommisison obliegen, die Modalitäten festzusetzen, damit das Plebiszit in der einfachsten und raschesten Weise durchgeführt werden könne; zu diesem Zwecke wird sich die Kommission schon jetzt mit den notwendigen Vorkehrungen befassen.
Die Volksabstimmung in der Stadt Ödenburg wird jener in der Umgebung vorausgehen, jedoch wird nur die Zusammenfassung beider Abstimmungen für das Gesamtergebnis der Volksbefragung maßgebend sein.
Das Gebiet, in dem die Volksbefragung stattzufinden hat, ist folgendermaßen abgegrenzt:
Eine Linie, ausgehend vom Neusiedlersee (Fertö) an dem Punkte, wo die nördliche Gemeindegrenze der Gemeinde Kroisbach (Fertö Rákos) den See erreicht.
Von diesem Punkte an folgt die Grenzlinie des der Volksabstimmung unterworfenen Gebietes der bezeichneten Gemeindegrenze bis zu dem Punkte, wo diese die Gemeindegrenze von Ödenburg (Sopron) erreicht und geht auf dieser Linie weiter bis zu dem Punkte, wo die Gemeindegrenze die nördliche Gemeindegrenze der Gemeinde Agendorf (Agfalca) erreicht, verfolgt diese nördliche Linie bis zu dem Punkte, wo sie von neuem mit der Gemeindegrenze der Stadt Ödenburg (Sopron) zusammentrifft; von diesem Punkte an folgt die Grenze des der Volksabstimmung unterworfenen Gebietes der Grenze von Ödenburg (Sopron) bis zu dem Punkte, wo sie die südliche Grenzlinie der Gemeinde Harkau (Harka) erreicht und folgt dieser bis zur Vereinigung der südlichen Gemeindegrenze von Kohlenhof (Kopháza) bis zu dem Punkte, wo diese letztere die westliche Gemeindegrenze von Zinkendorf (Nagy Czenk) erreich, welcher sie bis zu dem Punkte folgt, wo sie mit der durch den Friedensvertrag von Trianon bestimmten Grenze zusammentrifft. Von diesem Punkte an folgt die Grenzlinie der Trianoner Linie bis zu dem Punkte, wo letztere den Neusiedlersee (Fertö) erreich
Österreich und Ungarn verpflichten sich, das Ergebnis der Volksabstimmung anzuerkennen.
Acht Tage nach der Verkündung des Ergebnisses der Volksabstimmung findet die Übergabe des Gebietes an denjenigen Staat, dem es zufällt, statt.
Ungarn erkennt im Prinzipe seine Ersatzpflicht für die Österreich durch die Verzögerung der Übergabe Westungarn erwachsenen Schäden aller Art an.
Die Festsetzung der Details dieser Schäden und die Regelung der anderen auf Westungarn Bezug habenden, bisher in Schwebe gebliebenen finanziellen Fragen, haben durch gemeinsames Übereinkommen binnen 14 Tagen nach Übergabe der in Rede stehenden Gebiete durchgeführt zu werden.
Kommt es binnen einer neuerlichen Frist von 14 Tagen zu keiner Einigung, so werden diese Fragen einem Schiedsgerichte, das in Gemäßheit der im Artikel 239 des Trianoner Vertrages und dem entsprechenden Artikel des Vertrages von Saint-Germain vorgesehenen Bestimmungen gebildet werden soll, vorgelegt werden.
Im Hinblicke auf die tunlichste Beschleunigung der Arbeiten der interalliierten Abgrenzungskommission für die österreichisch-ungarische Grenze wird der italienische Minister des Äußern zu diesem Zwecke die nötigen Schritte bei der Botschafterkonferenz unternehmen.
Österreich verpflichtet sich, den Entscheidungen dieser Kommission nach Tunlichkeit zuzustimmen. Im Falle jedoch, als Österreich sich genötigt sehen sollte, gegen diese Entscheidung zu appellieren, erklärt es, die Entscheidung anzunehmen, welche vom Völkerbundrate anempfohlen werden wird.
Kein Bewohner des von Ungarn an Österreich abgetretenen Gebietes wird mit Rücksicht auf seine politische Haltung bis zum Augenblicke der tatsächlichen Übergabe des fraglichen Gebietes verfolgt oder belästigt werden dürfen.
Von Erwägungen der Menschlichkeit ausgehend, verpflichtet sich die österreichische Regierung im Prinzipe, die zum Zeitpunkte der tatsächlichen Übergabe im abgetretenen Gebiete diensttuenden Beamten nicht in Massen und aus politischen Rücksichten zu entlassen. Sie wird die Beibehaltung der Beamten in ihren gegenwärtigen Funktionen vom Ergebnisse der Prüfung jedes einzelnen Falles abhängig machen.
Die österreichische Regierung erkennt im Prinzipe die Verpflichtung an, die diesen Beamten zukommenden Pensionen zu übernehmen; die bezüglichen Detailbestimmungen werden durch ein spezielles Abkommen zwischen den beiden Regierungen geregelt werden.
Über Vorstehendes einig geworden, verpflichten sich die bevollmächtigten Vertreter Österreichs und Ungarn, ihren ganzen Einfluß aufzubieten, damit die obenerwähnten Bestimmungen gemäß den konstitutionellen Gesetzen ihrer Länder in Wirksamkeit treten.
Torretta m. p.
Bethlen m. p.
Schober m. p.
Bánffy m. p.