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In den wichtigsten Industriegebieten fanden daraufhin geheime Delegiertenwahlen statt, die zumeist von den Arbeiterbildungsvereinen organisiert wurden. Vor allem Hippolyt Tauschinsky, damals eine der führenden Persönlichkeiten in der Arbeiterbewegung, unternahm zahlreiche Reisen, um schon im Vorfeld des Parteitages die größten Gegensätze auszuräumen. Es gelang jedoch nicht, den Rivalen Scheus, Oberwinder, der vor allem in Wien zahlreiche Anhänger hatte, zur Teilnahme zu bewegen.

Man einigte sich schließlich auf Baden als Versammlungsort. An der Südbahn gelegen, war Baden aus allen Gebieten der Monarchie relativ leicht zu erreichen. Der dortige Arbeiterbildungsverein sollte die Veranstaltung organisieren. Am 2. April 1874 wurden die Behörden informiert, dass am 5. April eine Zusammenkunft geladener Gäste der Arbeiterschaft stattfinden werde. Zwei Tage später erging eine behördliche Mitteilung, dass diese Veranstaltung nicht den Bestimmungen des Versammlungsgesetzes entspreche und daher verboten sei. Einen Tag vorher ging ein Telegramm des Innenministeriums an die Statthalter von Wien, Brünn, Graz und Linz mit dem Auftrag, die Arbeiterversammlung in Baden zu untersagen.

Zum Zeitpunkt des Verbotes war ein Teil der Delegierten bereits unterwegs. Man wollte die Versammlung auch keineswegs absagen. So musste man sie an einen Ort verlegen, wo sie außerhalb des Wirkungsbereiches der österreichischen Behörden war. So wurde Neudörfl in Ungarn als Versammlungsort gewählt.

Der größte Teil der Delegierten traf am 5. April 1874 im Laufe des Vormittags in Neudörfl ein. Die Delegierten der Wiener Fraktion "Volksstimme" blieben in Baden und versuchten dort - zum Teil erfolgreich - Delegierte aus den Ländern von der Teilnahme an der Neudörfler Versammlung abzuhalten. Am Nachmittag konnte der Kongress in Neudörfl eröffnet werden. Zunächst mussten aber noch schwere Unstimmigkeiten bereinigt werden. Erst am Abend konnte man mit der Arbeit beginnen.

Es waren 74 Delegierte aus allen Teilen der Monarchie anwesend, jedoch nur drei aus Ungarn (aus Pressburg, Wieselburg und Budapest). Die meisten Abgeordneten kamen aus den Industriegebieten Nordböhmens und Niederösterreichs.  Man schätzt, dass sie etwa 25.000 organisierte Arbeiter vertraten. Als Präsidenten des Kongresses wurden Tauschinsky, Schiller und Pecka gewählt.

Der Ablauf des Parteitages ist uns aus dem Protokoll des steirischen Abgeordneten Jakob Würges - der sich später als Polizeiinformant entpuppte - überliefert: Hauptaufgabe war zunächst  die Gründung der Partei. Das  Eisenacher Programm der deutschen Sozialdemokratie wurde als Basis des eigenen Programms übernommen. In der Diskussion spielten schon damals das Selbstbestimmungsrecht der Völker der Monarchie - unter den Delegierten aus Böhmen waren auch Tschechen -  und das Selbständigkeitsrecht der einzelnen Länder eine wichtige Rolle.  Der Struktur der Monarchie entsprechend wurden ein Zentralkomitee für Österreich und Landeskomitees für die einzelnen Kronländer vorgesehen. Sitz des Zentralkomitees sollte Graz sein. Ein Kontrollkomitee sollte seinen Sitz in Wien haben. Als Zentralorgan wurde die in Wr. Neustadt erscheinende Zeitung "Gleichheit" bestimmt. Die Partei sollte durch eine "Parteisteuer" von einem Kreuzer pro Woche finanziert werden.

Das Programm des Neudörfler Parteitages, das mit 69 zu 5 Stimmen angenommen wurde

Die Österreichische Arbeiterpartei erstrebt im Anschluss an die Arbeiterbewegung aller Länder die Befreiung des arbeitenden Volkes von der Lohnarbeit und der Klassenherrschaft durch Abschaffung der modernen, privatkapitalistischen Produktionsweise. Sie erstrebt an deren Stelle die gemeinschaftliche, staatlich organisierte Produktion der Güter.

In nationaler Beziehung stellt sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz auf, erblickt jedoch in der nationalen Gliederung ihrer genossen kein Hindernis ihres gemeinsamen Strebens nach materieller Befreiung, sondern erkennt im Gegenteil nur in einem brüderlichen Zusammenwirken, welches alle nationalen Arbeiterschaften gleich berechtigt und gleich verpflichtet, die einzige Bürgschaft eines Erfolges. Teils zur Verwirklichung ihrer Grundsätze, teils zur Agitation für dieselben, stellt die Partei folgende Forderungen:

  1. Allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht für alle Staatsbürger vom zwanzigsten Lebensjahr an für das Parlament, die Landtage und die Rechte und Pflichten der Gesamtheit, wie der einzelnen Bürger zu wahren haben. Allen so gewählten Volksvertretern sind entsprechende Diäten zu gewähren.
  2. Vollständige Press-, Vereins-, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit.
  3. Trennung der Kirche vom Staate und Trennung der Schule von der Kirche.
  4. Obligatorischer Unterricht in den Volksschulen und unentgeltlicher Unterricht in allen öffentlichen Lehranstalten.
  5. Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.
  6. Unabhängigkeit der Gerichte, Wahl der Richter durch das Volk, Einführung des unentgeltlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens und unentgeltliche Rechtspflege.
  7. Einführung eines Normalarbeitstages; Einschränkung der Frauen- und Abschaffung der Kinderarbeit in den Fabriken und industriellen Werkstätten: Einführung des Instituts unabhängiger Fabriksinspektoren und Beseitigung der durch die Zuchthausarbeit den freien Arbeitern geschaffenen Konkurrenz.
  8. Abschaffung aller direkten Steuern und Einführung einer einzigen direkten, progressiven Einkommens- und Erbschaftssteuer.
  9. Staatliche Förderung des freien Genossenschaftswesens und Staatskredit für freie Arbeiter - Produktionsgenossenschaften unter demokratischen Garantien.

Nach Kongressende zogen die Delegierten, Arbeiterlieder singend, nach Wiener Neustadt und hielten dort am Ostermontag eine Arbeiterversammlung ab. Am 11. April erschien die "Gleichheit" bereits mit dem Untertitel "Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs".

Die Ereignisse in Neudörfl und Wr. Neustadt fanden in der Öffentlichkeit große Beachtung. Die Rede Tauschinskys in Wr. Neustadt wurde in großer Auflage gedruckt und in der gesamten Monarchie verbreitet. Die Behörden waren dadurch alarmiert. Schon am 8. April war die Polizeidirektion in Wien über die Ereignisse in Neudörfl informiert und holte genaue Informationen ein. Am 14. April wurde der Bürgermeister von Wr. Neustadt mit der Beobachtung aller sozialistischen Agitationen beauftragt. Am 15. Mai verfügte die Statthalterei die Auflösung des politischen Vereins "Gleichheit" in Wr. Neustadt. Der Verein hatte allerdings kurz zuvor auf das Eigentumsrecht an der Zeitung verzichtet. Trotzdem wurde die Zeitung immer wieder konfisziert. 1877 wurde die "Gleichheit" nach Wien verlegt und mit der dortigen Zeitung "Sozialist"  vereinigt.

Der Neudörfler Parteitag war eine wichtige Etappe, aber noch nicht der Durchbruch zu einer einigen und starken Arbeiterbewegung. Es folgte eine Zeit schwerer Rückschläge durch innere Streitigkeiten. Die Organisationsarbeit machte nur geringe Fortschritte, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei blieb relativ bedeutungslos. Erst der Hainfelder Parteitag und die Person Victor Adlers brachten die entscheidende Wende.

 

 

 

 

Grafik / Karte

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Leitha-Gasthof in Neudörfl: Das Gebäude ist noch heute erhalten. Es steht am Ortsanfang, wenn man von Wr. Neustadt her kommt, auf der linken Seite der Straße Bild: Bgld. Landesarchiv

 

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Quellen

  • Um Freiheit und Brot. Geschichte der burgenländischen Arbeiterbewegung von den Anfängen bis 1945. Eisenstadt 1984.
 

 

 
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